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Die Brüderbewegung und die Gnadenlehren

Ihr Selbstverständnis kennzeichnet u. a., dass sie sich jeder denominationellen Bezeichnung verwehren. Vielmehr sehnen sich Brüder nach der Einfachheit der neutestamentlichen Muster hinsichtlich kirchlicher Praxis und Gemeinschaft. Dabei verpflichten sie sich der Allgenugsamkeit[i] der Schrift. Dennoch übte die Brüderbewegung einen bedeutsamen Einfluss auf andere Evangelikale im 19. Jahrhundert aus.

 

Historiker haben die Geschichte der Brüder schwerpunktmäßig auf Themen erforscht, die in Verbindung mit ihrer historischen Entwicklung und ihrem Einfluss auf soziologische Entwicklungen standen. Theologisch konzentrierte man sich auf Fragen des Dispensationalismus[ii], der Ekklesiologie[iii] und der Eschatologie[iv], da dies die auffälligsten Kennzeichen der Bewegung sind und die Brüder auf diesem Gebiet den meisten Einfluss ausgeübt haben. Bis heute fehlte allerdings eine gründliche Untersuchung der Soteriologie[v] der frühen Brüder. „Mark Stevensons Untersuchung der Lehre der Brüder über das Heil ist deshalb sehr willkommen und füllt eine bedeutsame Lücke in unserem Verständnis der Bewegung“ (S. 11). Dem CLV ist an dieser Stelle zu danken, dass man sich die Mühe gemacht hat, dieses Werk ins Deutsche zu übersetzen.

 

Nach einer Einführung, die über Umfang und Abgrenzung der Forschungsarbeit informiert, blickt Stevenson in den ersten zwei Kapiteln auf die calvinistische Heilslehre und zeichnet einen Bogen von der Restauration[vi] (~ 1660) bis ins 19. Jahrhundert. Der Fokus liegt hierbei auf dem historischen Kontext, der die damalige Zeit und das Verständnis prägten. Aufschlussreich ist die Skizzierung des soteriologischen Spektrums, der das Feld der theologischen Auffassungen über die göttliche Souveränität und menschliche Freiheit im calvinistischen und arminianischen Denken aufzeigt. Denn die calvinistisch-arminianische Debatte stellt einen zentralen Aspekt der evangelikalen Theologie dar und umfasst ein breites Spektrum von Denkansätzen. Stevenson zeigt auf, dass die Brüder eine calvinistische Soteriologie aufwiesen. In den Kapiteln vier bis sieben beleuchtet der Autor nun die unter dem Akronym TULIP [vii] bekannt gewordenen „Lehrsätze des Calvinismus“. Ihm gelingt es dabei das Folgende aufzuzeigen: die Brüder des 19. Jahrhunderts hielten an einer kraftvollen Sicht von der „völligen Verderbtheit des Menschen“ fest, was dazu führte, dass eine calvinistische Position die normative Position darstellte. Ebenso vertraten führende Autoren und Männer der Bewegung ein calvinistisches Verständnis der Erwählung. In seinen Ausführungen stellt Stevenson übersichtlich dar, wie die Brüder mit der Frage der Prädestination umgingen (s. S. 275-76). In den weiteren Ausführungen erfährt der Leser, dass die Brüder keine arminianische[viii] Version universaler Sühnung oder Erlösung vertraten. Vielmehr unterschieden sie zwischen universaler Sühnung und partikularer Stellvertretung, was eine Besonderheit der Brüderlehre ist. „Die Unterscheidung zwischen Sühnung und Stellvertretung gab den Brüdern auch ein Mittel an die Hand, mit biblischen Texten umzugehen, die in ihrer Ausrichtung entweder universal [ix] oder partikular[x] waren, ohne dabei die Stoßkraft weder des einen noch des anderen Aspekts abzuschwächen“ (S. 329). Diese Züge weisen calvinistische Tendenzen auf, müssen aber inhaltlich differenziert davon betrachtet werden. Im siebten Kapitel verdeutlicht Stevenson, dass die Brüder bemüht waren, zu einer ausgewogenen Position hinsichtlich der Frage zu kommen, mit der die persönliche Rettung verbunden ist. Dabei griffen sie auf Vorläufer in der reformierten Theologie[xi] zurück, aber ließen auch ihren Teil an theologischen Eigenheiten erkennen. Das abschließende achte Kapitel fasst noch einmal die Schwerpunkte der Untersuchung zusammen. Anhand der Belege und Quellen kommt Stevenson zu dem Schluss, „dass es angemessen ist, die Soteriologie der Brüder des 19. Jahrhunderts als calvinistisch zu bezeichnen“ (S. 413).

 

Die Untersuchung ist ein gelungener Beitrag zu einem Thema, das immer wieder für Diskussionen sorgte, sorgt und sorgen wird. Inhaltlich arbeitet Stevenson sehr gründlich und beleuchtet neben historischen Entwicklungen v. a. auch führende Persönlichkeiten (J. N. Darby, W. Kelly, A. Marshall u.a.). Anhand der reichhaltigen Quellen erhält der Leser einen faktengestützten Einblick in das Denken der Brüder im 19. Jahrhundert. So bietet „der Verfasser eine souveräne, kompetente und weit gespannte Darstellung der Ansichten führender Lehrer innerhalb der Bewegung“ (S. 11).

 

Befürchtungen, dass die Ausarbeitung kompliziert und schwer zu verstehen ist, kann ein Riegel vorgeschoben werden. „Zwar hat der Verfasser in das Buch einen umfangreichen Inhalt gepackt, aber in einem Stil, der das Lesen viel leichter macht, als dies bei den meisten anderen Büchern dieser Kategorie der Fall ist“ (S. 11). Nichtsdestotrotz bedarf es eines gewissen Vorwissens bezüglich der Thematik, um die Inhalte einordnen zu können.

 

Insgesamt ist das Buch hilfreich, um das Denken der führenden Personen der Brüderbewegung zu erkennen. Weiterhin wird es hoffentlich dazu beitragen, dass grundlegend über diese wichtigen Themen nachgedacht und in Gottes Wort nachgeforscht wird. Aufgrund der inhaltlichen Fülle und des theologischen Vorwissens ist es eher für Interessierte zu empfehlen. Der Preis ist absolut angemessen für die faktenreiche Kompaktheit der Darstellung.

 



Anmerkungen:[i] Bezeichnet in der christlichen Dogmatik Gottes völlige Unabhängigkeit von der Welt; Gott ist nur von sich abhängig.

[ii] Eine heilsgeschichtlich orientierte Form der Bibelauslegung, die mit einer bestimmten Lehre von der Endzeit verknüpft ist.

[iii] Theologische Lehre von der christlichen Kirche.

[iv] Lehre bzw. Gesamtheit religiöser Vorstellungen von den Letzten Dingen, d. h. vom Endschicksal des einzelnen Menschen und der Welt.

[v] Theologische Lehre vom Erlösungswerk Christi.

[vi] Bezeichnet man allgemein die Wiederherstellung eines politischen Zustandes, in der Regel die Wiedereinsetzung einer alten Dynastie, die im Zuge einer Revolution beseitigt worden ist.

[vii] Unter TULIP wird die spezifische Lehre des Calvinismus oft in fünf Punkten zusammengefasst, mit dem englischen Akronym TULIP für Total depravity (völlige Verderbtheit), Unconditional election (bedingungslose Erwählung), Limited atonement (begrenzte Sühne), Irresistible grace (unaufhaltsame Gnade), Perseverance of the saints (Ausharren der Heiligen).

[viii] Eine gemäßigte Richtung des reformierten Protestantismus. Arminianismus vertritt die folgenden Lehren: Die Menschen sind von Natur aus nicht fähig, etwas für ihre Erlösung zu tun. Die Erlösung ist nur durch Gottes Gnade (Sola gratia) möglich. Menschliche Werke können die Erlösung nicht bewirken und nicht dazu beitragen. Erwählung durch Gott hängt vom Glauben an Jesus Christus ab. Die Erlösung durch Christus gilt allen Menschen. Gott lässt zu, dass die, die nicht glauben wollen, seiner vorauseilenden Gnade widerstehen. Die Erlösung kann wieder verloren werden, da sie vom fortgesetzten Glauben an Jesus Christus abhängt.

[ix] Das Erlösungswerk ist grundsätzlich für jeden Menschen vorhanden, also auch für Sünder, die das Erlösungswerk Jesu noch nicht angenommen haben.

[x] Das Erlösungswerk ist nur für diejenigen vorhanden, die von Gott in Christus erwählt wurden.

[xi] In der reformierten Theologie nimmt die Bibel, verstanden als göttliche Offenbarung, die zentrale Stelle ein; dies schlägt sich nieder in der Schlichtheit der Kirchenräume und des Gottesdienstes, der auf die Verkündigung des Evangeliums zentriert sein und möglichst wenige außerbiblische Elemente enthalten soll. Auch die Sakramente, namentlich das Abendmahl, treten in der gottesdienstlichen Praxis gegenüber Katholizismus und Luthertum in den Hintergrund und werden, als rein zeichenhafte Handlung verstanden, in den Dienst der Verkündigung gestellt. Wesentliches Charakteristikum reformierter Theologie ist ferner die starke Betonung der Prädestinationslehre, des Gedankens einer Erwählung der zum Heil (bzw. zur Verdammnis) bestimmten Menschen durch Gott ohne die Möglichkeit der Beeinflussung durch den Menschen.


Das Buch:

  • Stevenson, M. R. (2019): Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre?, CLV Bielefeld, ISBN: 978-3-86699-391-4, 476 Seiten, Preis 16,90€

erhältst du im Buchhandel oder direkt hier.

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